Romanauszug aus Ivanhoe von Sir Walter Scott
Der Adel, unter der Regierung Stephans zu unbegrenzter Macht aufgestiegen und durch Heinrichs II. kluge Politik gerade wieder einigermaßen der Krone unterworfen, hatte sich zu Richard Löwenherz Zeiten mächtiger als zuvor die alte Freiheit zurückerobert, behandelte den schwachen Einspruch des englischen Staatsrats mit Verachtung, befestigte seine Schlösser, verstärkte die Zahl seiner Hörigen, zwang seine Umgebung in Lehnsuntertänigkeit und wendete alle zu Gebote stehenden Mittel an, um - jeder für sich - solche Streitkräfte um sich zu scharen, die ihnen Aussicht verhießen, in den bevorstehenden nationalen Zusammenstößen eine Rolle zu spielen. Die Lage des niederen Adels, der Franklins, wie man sie nannte, denen nach Gesetz und Sinn der englischen Verfassung das Recht zustand, von der Feudaltyrannei unabhängig zu bleiben, wurde jetzt bedenklicher denn je. Wenn sie sich - was gewöhnlich der Fall war - unter den Schutz eines der benachbarten kleinen Könige stellten, wenn sie Lehnsdienste an seinem Hof übernahmen oder sich in gegenseitigen Schutzbündnissen verpflichteten, ihm in seinen Unternehmungen beizustehen, so hatten sie sich zwar eine zeitweilige Ruhe erkauft, dafür jedoch ihre Unabhängigkeit geopfert, die jedem englischen Herzen so teuer war, und mussten mit Sicherheit rechnen, in jedes unbesonnene Unternehmen verwickelt zu werden, in das der Ehrgeiz ihres Beschützers ihn nur immer treiben mochte. Andererseits verfügten die mächtigen Barone über so vielfältige Mittel der Bedrohung und Unterdrückung, dass sie niemals eines Vorwandes und selten des Willens ermangelten, ihre weniger einflussreichen Nachbarn zu beunruhigen und bis an den Rand des Verderbens zu folgen, wenn diese sich ihrer Macht zu entziehen wagten und sich in Zeiten der Gefahr allein auf ihr passives Verhalten und die Gesetze des Landes verließen. Die Folgen der Eroberung durch Wilhelm, Herzog der Normandie, trugen noch dazu bei, die Tyrannei des Adels und die Leiden der unteren Klassen zu verschlimmern Vier Menschenalter hatten nicht hingereicht, das feindselige Blut der Normannen und der Angelsachsen zu vermischen oder durch gemeinsame Sprache und gemeinsame Interessen zwei feindliche Stämme zu vereinen, deren einer sich immer noch im Hochgefühl des Triumphes sonnte, während der andere unter den Folgen der Niederlage stöhnte. Nach der Schlacht bei Hastings war der normannische Adel zu unumschränkter Macht gelangt und übte sie - wie unsere Geschichtsschreiber versichern - keineswegs mit milder Hand. Das ganze Geschlecht der angelsächsischen Fürsten und Edlen war bis auf wenige ausgerottet oder seines Erbes beraubt, nur einzelne niederer Klassen besaßen noch Grund und Boden im Land ihrer Väter. Seit langem hatte sich die Politik des Königs jedes gesetzlichen und ungesetzlichen Mittels bedient, um jene Bevölkerungsschicht zu schwächen, von der man mit Recht annehmen konnte, dass sie den hartnäckigsten Hass gegen ihre Eroberer nährte. Alle Herrscher normannischen Geblüts hatten unverkennbare Vorliebe für ihre normannischen Untertanen gezeigt; auf den Nacken der unterjochten Bevölkerung drückten die Jagdgesetze und viele andere, die dem milderen und freieren Geist der angelsächsischen Verfassung alle unbekannt waren, und erhöhten gleichsam das Gewicht der Ketten, mit denen das Lehnswesen sie belastete. Am Hof und in den Schlössern des Hochadels, wo man mit dem Pomp und der Pracht des Hofes wetteiferte, war das normannische Französisch die einzige Sprache, der man sich bediente, auch Verteidigung und Urteil an den Gerichtshöfen wurden französisch abgefasst Kurzum: Französisch war die Sprache der Vornehmen, der Ritterschaft und selbst der Gerichtsbarkeit, während das bei weitem männlichere und ausdrucksvollere Angelsächsisch dem Gebrauch der Bauern und Knechte überlassen blieb, die keine andere Sprache kannten. Der unvermeidliche Verkehr zwischen Grundbesitzern und jenen unterdrückten niederen Wesen, die den Boden bearbeiteten, schuf jedoch allmählich eine aus Französisch und Angelsächsisch gemischte Sprachform, in der sich beide verständlich machen konnten, und aus dieser Notwendigkeit entstand nach und nach die Struktur der gegenwärtigen englischen Sprache, in der die Sprache der Sieger und die der Besiegten aufs glücklichste verschmolzen und die seither aus dem Wortschatz der klassischen Sprachen und dem der südeuropäischen Völker noch bereichert worden ist. Ich habe es für notwendig erachtet, den Leser über diese Lage der Dinge zu unterrichten, da er zu leicht vergessen könnte, dass - obwohl keinerlei große historische Ereignisse wie Krieg oder Volksaufstand nach Wilhelms II. Regierung die Angelsachsen als selbständige Völkerschaft kennzeichnen - die großen nationalen Unterschiede zwischen ihnen und ihren Eroberern und das Bewusstsein dessen, was sie früher gewesen und zu welchem Tiefpunkt sie nun gelangt waren, dennoch bis zur Regierungszeit Eduards III. zu lebendig blieben, um die Wunden der normannischen Eroberung vernarben zu lassen und um die Grenzlinie zu verwischen ... |